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Ich dachte: «Wann werden die zwei Jungs endlich umgenietet, damit ich was essen gehen kann?» Seit geschlagenen zwei Stunden sass ich bereits im Kino, langweilte mich und hatte mächtigen Kohldampf. Das rote Thai-Curry hatte schon lange aufgehört, mir Sättigung vorzugaukeln und eine Glacé-Pause blieb mir auch vergönnt. Ich harrte dem Ende und mit mir 174 weitere Augenpaare. Doch weit und breit war kein Schnarchen zu vernehmen, lediglich meine Magensäfte blökten dissonant eine kleine Arie! War es in der Tat möglich, dass neben, hinter und vor mir tatsächlich alle der Wucht des Films erlegen waren? Seiner Brillanz, welche auch die Presse unisono pries, die mir jedoch komplett entging. War ich sehend blind? Dabei gab ich mir durchaus Mühe und fand den Film zu Beginn noch ganz interessant. Ja, ich war richtig froh, hier zu sitzen. Wie damals, als wir uns mit regelwidrigen vierzehn Jahren in «Kids» reingeschmuggelt hatten und von einer neuen, aufregenden Welt empfangen wurden. Eben noch Lobgesänge im Jugendgottesdienst, wenige Stunden später bereits die Kerzenstellung auf der Leinwand. Das war vielleicht was für uns Buben vom Land! Unsere Entwicklung trabte in Siebenmeilenstiefeln voran, ich konnte es deutlich spüren. Als ähnlich wichtig erachtete ich es, an jenem Freitag und dreizehn Jahre später auf Platz 1 in Reihe 7 zu sitzen. Im Kino rohe Gewalt und organisiertes Verbrechen, draussen auf der Langstrasse – vermutlich ebenso. Aber eingenistet in tief nachgebende Samtsitze, zeigte es eine fremde Welt weit ab von der gewohnten Umgebung. Das Lehrstück konnte beginnen, also Vorhang auf für Kultur vom Feinsten! Dann die Ernüchterung: Aus dem Lichtspektrum des Projektorstrahls schälte sich allmählich facettenreiche Langeweile heraus. Also fort mit den typischen Künstler-Platitüden! Von wegen spannend, interessant, wertvoll oder wichtig. Dahinplätschernd, in die Länge gezogen, bemüht spektakulär, two thumbs down, scusi! Und doch: «Gomorra» ist einer dieser Filme. Sie wissen schon, dieselbe Liga wie «Apocalypse Now», «Babel» oder die meisten Coen-Filme. Alle Welt liebt sie, ich hasse das Zeugs! Ähnlich wird es mir mit «Gomorra» ergehen, ich ahne es.

Doch noch wusste ich nichts von alledem, als ich morgens um neun die Tickets kaufte. Ein vermeintlich weiser Entscheid, denn eine knappe Stunde später war das Kino wohl ausverkauft. Schliesslich würde man an diesem Abend den Vorhang für den Liebling von Cannes ziehen. Eine Wucht von einem Film, die Jury war sich einig. Hinzu kommt die tragische Heldengeschichte um den Buchautor Roberto Saviano. Lehnte sich allzu weit aus dem Fenster in den napoletanischen Smog hinaus und schon begannen die fetten Mafiosi, den adretten Schreiberling zu piesacken. (Dies lehrt uns der Film: Mafiosi sind fett! Wenn nicht, dann sind sie dumm oder reden wie Ivan Benito.) Angepisst setzten sich die korpulentesten Schläger fortan an den Lesungen von Signore Saviano in die erste Reihe, doch statt dem Erfolgsautor Applaus zu spenden, zogen sie drohende Faxen. Wie kann man sich da noch aufs Liebesleben konzentrieren? Es ist ein Frust. Tote Hose, dafür – als kleiner Trost – übervolle Kassen und Ruhm wie zu Giovanni Falcones Zeiten. Dazu ein Wikipedia-Eintrag und 6'970'000 Suchergebnisse bei Google. Zum Vergleich: Eine durchschnittlich berühmte Person – also z.B. ich – verzeichnet lediglich 198 Suchergebnisse (und natürlich kein Wikipedia-Eintrag!), während es Beni Thurnheer immerhin auf 7'380 Ergebnisse (plus Wikipedia-Eintrag) bringt. Doch nichts im Vergleich zu Roberto, dem Mafiaschreck! Dessen Schicksal bewegt die Welt und dient Salman Rushdie als Steigbügel, um endlich mal wieder ins öffentliche Bewusstsein aufzusteigen. Der Primus unter den Gejagten und Geächteten gibt Survival-Tipps und leistet Beistand. Dabei würde Sir Rushdie lieber uns Kinogängern Ratschläge erteilen, wie wir – eingepfercht in Genuss versprechende Sessel – dem grausamsten aller Peiniger entkommen könnten: dem Hunger, meine Damen und Herren! In Afrika würde man mich verstehen... Äyy, dieser Witz wird wieder teuer! Mindestens ein Zwanzigernötli für Karlheinz Böhm muss schon her! Eine Art chemische Reinigung für mein Gewissen.

Nach 137 Minuten war der Mafianachwuchs Dumm & Dümmer dann doch noch um die Ecke gebracht. Ich applaudierte frenetisch, als sie vom Bagger weggekarrt wurden und bereits Minuten später stopfte ich mit ebenso grossen Schaufeln Hamburger und Pommes in mich rein. Quetschte noch den letzten Rest Ketchup aus dem Tütchen und war wieder ganz zufrieden mit der Welt. Neapel wusste ich weit weg und Mafia? In etwa gleich pubertär wie Fussball-Hooligans!



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