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Draussen fallen bald die ersten Flocken, die Heilsarmee steckt in den letzten Gesangsproben und André Rieu stimmt schon mal seine Stradivari für die grosse Weihnachtsgala. Ja, es weihnachtet schon bald, das lässt sich nur schwer verhindern. Durch den Manor laufen wir heute schon über flauschigen Teppich und durch glitzernde Engels-Welten. Alles ein bisschen kuscheliger, alles ein bisschen sanfter. Und jedes Jahr dieselben Fragen: Hätte ich mir als Kind nicht doch lieber eine Carrera-Bahn statt einen Bauernstall wünschen sollen? Wann schiesst endlich jemand all die «Wham!»-CDs auf den Mond? Gibt es sinnvollere Geschenke als alkoholische Geschenke? Und besonders: Rührt das «Fliegende Klassenzimmer» auch heute noch Millionen von Kindern zu Tränen? Ding-Dong... «Mein Gott, es ist Martin!» – Sturzbach, keine Chance! Nun gut, heutige prä-adoleszente Sturzbäche sehen wohl anders aus – wir leben ja nicht umsonst in der Generation Handy-Porno.

Wenn wir schon beim Thema sind: Erinnern Sie sich noch an Ihre erste erotische Fantasie? Meine erblickte ich an einem gewöhnlichen Samstag Abend auf dem Fernsehschirm. Sie trug das «kleine Schwarze» und sang «Hero». Ihre Stimme geht angeblich über fünf Oktaven und früher, als ich Kind war, ging ihr Stern gerade erst auf und sie sang hübsche, kräftige, traurige, rührende, wütende, mitreissende Balladen. Heute ist sie eine gewöhnliche Ghetto-Bitch, wie sie jede zweite mittelprächtige Sängerin darzustellen versucht. Im Gegensatz zu Katy Winter hat sie immerhin den Vorteil, dass neben ihr Typen wie Busta Rhymes oder Jay-Z stehen. Echte Kerle halt. Ja, Mariah Carey verzauberte mich an diesem Abend und zum ersten Mal bemerkte ich, dass ich nicht alleine auf dieser Welt bin. Huch, da ist noch wer! «Mein Gott, es ist Martin!» Haben Sie sich schon mal gefragt, wieso man zwei Vornamen trägt? Vielleicht einfach deshalb, damit man sich gleich mit Namen ansprechen kann. Klingt doch viel vertrauter als ein despektierliches «Hallo, mein kleiner Freund da unten!» Interessant also jene Menschen, die ihren Mittelnamen in ihren Rufnamen einbauen. Hat denen ihr Ding wirklich so viel Gewicht? Verdient er/es eine eigene Postanschrift? Nun gut, wirklich sprechen mit dem besten Stück tut man höchstens in deutschen Komödien, in Wirklichkeit läuft die Kommunikation eher nonverbal ab. Aber eigentlich – wie ich mir kürzlich überlegt habe – weist die Beziehung Mann-Penis (um das Ding mal beim Namen zu nennen) einige interessante Parallelen zu Nazi-Deutschland auf. Gleich wie damals neigt man zu Beginn dazu, den kleinen Kerl zu verniedlichen und nicht allzu ernst zu nehmen. «Jööö, duduu... gudigudi!» Jahrelang ignoriert man die Gefahr und ist sich keines Risikos bewusst. Doch dann, der Kerl hat unterdessen einen Schnauzer gekriegt, schwellt er seine Brust und türmt sich auf zum Mann! Zum Riesen! zum Ungetüm! Ja, der Rest ist Geschichte. Doch Vorsicht, es gibt auch Diktatoren mit Bärten und solche mit Glatzen! Lassen Sie sich also nicht von der Verkleidung täuschen. Und schon gar nicht von der Grösse.

Ja, solche Sachen überlege ich mir, wenn ich morgens mit dem Zug in den Sonnenaufgang fahre. Sehr pathetisch. Tu ich ja eigentlich nur, wenn ich ausnahmsweise mal früher gehen muss. Im Normalfall steht die Sonne bereits knapp über dem Horizont. Oder es pisst. Kürzlich durchkreuzte auf einer solchen Zugsfahrt ein Minibar-Verkäufer meine Gedankenwelten. Ich kann mir nur wenige Jobs vorstellen, die noch beschissner sind, als von morgens bis abends ein sperriges Wägeli zwischen sperrigen Pendlern durchzuwürgen. Politiker vielleicht; oder Realschullehrer. Doch dann folgt an dritter Stelle der «Wägelima». Immer schön lächeln, immer den gleichen Spruch: «Kafi, Bier, Mineral!» und Ende Monat den ewig miesen Lohn kassieren. Doch an diesem Morgen (eigentlich war es am Abend, doch wir hatten’s eben vom Sonnenaufgang...) vernehme ich an Stelle des Standart-Spruchs lautes Gelächter im hinteren Teil des Wagens. Das Lachen schwappt wie ein Buschfeuer von Abteil zu Abteil über. In einem Schweizer Zug! Zur Stosszeit! Inmitten der Wirtschaftskrise! In Spreitenbach! Wann hat wohl zuletzt jemand gelacht in Spreitenbach? Vielleicht der VCS, als der IKEA-Neubau verhindert schien. Doch seither? Es ist also zweifellos nicht übertrieben zu behaupten: Ein historischer Moment! Dann düst der Wägelima an mir vorbei, stoppt seinen Karren ein Abteil weiter vorne, blickt dem einen Griesgram in die Augen und fragt: «Grüezi, are you ready to smile?» Entwaffnend herzlich. Dabei hätte er wahrlich nicht viel zu lachen. Seit fünfzehn Jahren in der Schweiz, wovon er vierzehn Jahre hinter seiner Minibar verbrachte. Ich hätte ob dem ewigen Geholper schon lange gekotzt. Doch er schien fröhlich, als wär’s ein Ferienjob und als würde morgen der Flieger in die Ferien starten. Doch da warten keine gepackten Koffer zu Hause, nur die Aussicht auf nochmals zehn Jahre hinter dem Wägeli. Auch wenn gewisse Leute nur allzu gerne seine Koffern gepackt sähen. Einer weniger! Ja genau, welch eine Erlösung! Ich könnte wieder ungestört aus dem Fenster glotzen – «Kafi, Bier, Mineral!» – und dabei über Schwanz-Diktaturen und Mariah Careys Pfeifregister sinnieren.



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