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Es mag wohl zutreffen, mein Portemonnaie hat schon bessere Zeiten gesehen. Aber kaputt und tot? Nein, das wäre doch zu negativ ausgedrückt. Allerdings gibt es immer wieder Anlass zu recht unerwarteten Kommentaren. So stehe ich an der Manor-Kasse Schlange, um meine Ration Deo, Duschmittel und Zahnpasta zu bezahlen. Ich habe gerade das Geld der Kassiererin in die Hand gedrückt, da zeigt sie an den Strumpfwaren vorbei in Richtung der Lederwaren und sagt ziemlich cool: «Ein neues Portemonnaie finden Sie dort hinten!» Ohne eine Miene zu verziehen. Ich überlegte noch, ob ich vielleicht eingeschnappt und mürrisch reagieren sollte - ich steckte schliesslich grad mitten in einem herrlich mürrischen Tag! Doch da hatte mein Zwerchfell bereits ein Lachen hoch geschickt, völlig autonom und anarchistisch. Meine Mürre war dahin!

Ich gebe ja zu, es wäre langsam an der Zeit, ein neues Portemonnaie zu kaufen. Doch ich mag das Ding so sehr. Eine schön verschlissene Lederhaut, die allerdings bereits beim Kauf verschlissen war, doch das muss so sein und ist wunderbar! Die Probleme beginnen jedoch im Innenleben. Hier scheinen die Nähte allesamt eine extrem kurze Halbwertszeit zu besitzen, die meisten haben sich innert Jahresfrist bereits in luftigste Luft aufgelöst. Und erst der Reissverschluss! Eine ganz tragische Angelegenheit. So ist mein jetziges Portemonnaie bereits das zweite Exemplar desselben Modells. Beim ersten ging nach wenigen Tagen der Reissverschluss kaputt, also brachte ich Modell eins zurück und bekam gratis Modell zwei. Wir waren sehr glücklich zusammen, doch nach wenigen Tagen ging auch hier der Reissverschluss kaputt. Zum Glück, als er gerade offen war. Nun wurde es mir allmählich zu blöd, ich kann ja nicht jede Woche ein neues Portemonnaie holen gehen, man muss ja auch mal in den Zustand gegenseitiger Vertrautheit gelangen. Zudem kam ich mir diskriminierend und oberflächlich vor. Alles gleich austauschen nur wegen ein paar Makeln? Ich bin ja auch nicht perfekt und hoffe täglich auf gütige Akzeptanz. So könnte man mich durchaus aus meinem Block werfen und einen Neumieter rankarren, der absolut geräuschneutral lebt und sicher keine Musik aus seinen Boxen dröhnen lässt. Vor allem nicht nachts um elf. Oder man könnte mir den Zutritt zum Coop verweigern, da ich noch immer keine Supercard besitze und seit drei Jahren derselben Verkäuferin tagtäglich ihre immer gleiche Frage emotionslos verneine. Oder man könnte mir mit gutem Gewissen meine Militäruniform und all die interessanten Reglemente und meine funkelnde Gamelle gewaltsam entreissen, weil ich einfach kein Interesse für die jährlichen Wiederholungskurse zeige. Doch man akzeptiert mich als Nachbarn, als Landesverteidiger und als Konsumenten in all meiner Unvollkommenheit. Dies ging mir durch den Kopf, als ich bereits den zweiten Reissverschluss in der einen und das dazugehörige Portemonnaie in der anderen Hand hielt. Also entschloss ich mich, meine behinderte Krüppelbörse zu behalten. Und siehe da, sie revanchierte sich bei mir, indem sie ganz erstaunliche Leistungen vollbrachte. Kreditkarten - immerhin das Tor zu meinen immensen materiellen Schätzen - blieben trotz fehlender Nähte immer an Ort und Stelle. Gleich verhielt es sich mit den Münzen. Egal ob kleine Fünferli oder grosse, schwere, dicke Fünfliber, alles blieb stets an seinem Platz. Mein Portemonnaie schien die Schwerkraft zu überlisten. Folglich prallten all die blöden Sprüche an mir ab wie Kritik an Sämi Schmid. Mein Portemonnaie war perfekt, kein Grund also, es auszumustern!

Dachte ich bis gestern. Doch seit gestern haben meine Zweifel neuen Auftrieb erhalten. Ich stand am HB und wartete auf meine S-Bahn. Da kam eine stinkende, faulende Duftwolke auf mich zu. Ich erkannte inmitten der Wolke eine schwarz bezahnte Gestalt in zerrissenen, löchrigen Lumpen. Das Lachen passte nicht ganz zum Rest der Erscheinung, dennoch reichte das Gesamtbild, um in mir ein schlechtes Gewissen aufkommen zu lassen. Ich mit meiner Bio-Milch und den Max Havelaar-Bananen, während sich dieser Mensch wohl nur von Anker-Bier ernährt. Was für eine Schande! Trotzdem zupfte ich schnell meinen Pulli zurecht, damit das Thommy Hilfiger-Logo auf meinen Jeans darunter verschwand. Abwimmeln fällt dadurch ein bisschen leichter! Doch dann vergegenwärtigte ich mir den Grund, weshalb ich überhaupt auf diesem Perron stand und auf eben diese S-Bahn wartete: Vorstellungsgespräch. Es gab also keinen Grund, in dieser kritischen Phase meiner beruflichen Zukunft das Universum unnötig zu verärgern! Also gut, widerwillig gütig fischte ich mein Portemonnaie hervor. Damit es dem armen Kerl ausnahmsweise mal zu einem Eichhof (krieg ich für diese Erwähnung Prozente?) reichen sollte. Anker-Bier kann nun wirklich keinem zugemutet werden, das geht zu weit! Ich war gerade dabei, eine recht grosse Münze zu suchen – das Universum ist ja auch recht gross –, da entfährt es dem Penner: "Hey shit, dein Portemonnaie sieht ja voll übel aus!" Ich glotzte ihn an. Dann seine Kleidung. Das waren Löcher mit Stoffrändern! Also wenn hier was übel aussieht… aber verdammt, vielleicht hatte er ja Recht! Vielleicht sollte ich echt mal wieder in den Portemonnaie-Laden gehen. Vielleicht grad heute. Vielleicht noch in dieser Stunde! Und vielleicht mal auf diese Freitag-Dinger umschwenken. So ne Lastwagen-Plane scheint recht robust zu sein! Machen die eigentlich auch Kleider? Ich kann da nämlich wen...

PS: Ich komme grad vom Manor. Es ist schon wieder passiert, kein Scheiss! Manor-Verkäuferinnen reagieren irgendwie recht krass auf abgefuckte Portemonnaies: «Sie scheinen Ihr Portemonnaie wahnsinnig gerne zu haben!» Ich (in Gedanken): «Ja, und ich hab’ auch sonst ein ganz doll grosses Herz!» *Hundeblick* (real). Wieder sie: «Das sieht so Scheisse aus, das ist schon wieder Kult!» Danke, alles klar!



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