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(Diese Woche gibt’s wegen meiner langen Diplompause gleich eine Doppelnummer! Also los...)

Ich habe dieses Problem und das ereilt mich bereits nach wenigen Minuten in Bern. Ja, in Bern. Zürcher bekommen klaustrophobische Zustände in Aarau, alle andern Schweizer bekommen Zustände in Zürich, doch Bern mögen alle. Alles so ruhig, alles so friedlich. Ausser die SVP spaziert durch die Altstadt, aber sonst ist Bern die Ruhe selbst, ein zufriedener Bär im Schlummerschlaf. Bern ist quasi der Heiri Müller unter den Schweizer Städten. Doch bei mir blinken schon nach fünf Minuten die Alarmlämpchen. Spätestens! Denn irgendwie finde ich meinen Weg nicht zwischen den Bernern hindurch. Allerdings scheine ich weit und breit der einzige zu sein, denn eine ganz andere Platte wurde zum Hit: Grauenvolle Zürcher Hektik! Gestresste Leute, wohin das Auge reicht! Schnell zur Börse, schnell zum Paradeplatz, schnell in den Zara, schnell in den H&M, schnell zum Sprüngli, schnell in die Delicatessa, schnell in die Engi, schnell an den Letten, schnell auf den Zug, schnell ins Tram, schnell ins Puff und schnell ins Gym. Viele Wege führen durch Zürich und alle, die sie begehen, sind im Stress. Soweit das weit verbreitete Vorurteil. Und ja, diese Einschätzung ist absolut korrekt! Doch das führt eben auch dazu, dass Zürcher extrem geübt sind im gestresst Sein. Sie können hervorragend damit umgehen und zirkeln selbst in grösster Hast ungemein elegant und graziös um ihre Mitmenschen herum. Die Teilchen schwirren derart beschleunigt im HB umher, dass sie der Sichtbarkeit entschwinden. Als Resultat herrscht selbst nachmittags um fünf meditative Stille. Herrlich!

Anders in Bern. Dort entsteige ich dem Zug und komme knapp drei Schritte weit, ehe ich auf Tuchfühlung mit den Bernern gehe. Drei Schritte später knalle ich gegen den nächsten Passanten, wieder drei Schritte später gebe ich entnervt auf. Drei Atemzüge später merke ich, dass mich vermutlich kein Rescue Team bergen wird, also weiter! Drei Stolperer später stehe ich völlig entnervt endlich auf der Strasse. Geschafft! Mir graut jedoch vor dem Rückweg. Aber was soll auch anderes dabei herauskommen, wenn man diese gemütlichen, ruhigen und entspannten Berner durch einen viel zu eng konzipierten Bahnhof treibt und sie mit einer synthetischen Stimme, welche einen fremden Dialekt spricht, auf die Züge jagt. Schnell wird klar, hier sind sie nicht mehr auf Berner Boden, hier regiert die SBB! Und nicht erst seit der ehemalige Chef – ein Berner – seine beruflichen Weichen neu gestellt hat, ist das System SBB mit dem System Bern nicht zu vereinen. Kommt nun ein in Sachen Stress routinierter Nicht-Berner wie ich daher, dann prallen buchstäblich Welten aufeinander!

Dennoch, Bern ist eine Droge und jeder, der damit in Berührung kommt, begibt sich augenblicklich in grösste Abhängigkeit. Schon allzu oft habe ich das mit ansehen müssen. Gerade in meinem Kanton gibt es nicht viele, die Zürich mögen. Doch kaum begeben sich diese nach Bern, ist es um sie geschehen. «Grüessech», «vieri föfzg» und «adee» singen die drei Sirenen, welche kräftig mithelfen, die opiate Wirkung zu verbreiten, so dass bereits nach dem ersten Besuch alle völlig benebelt und zugedröhnt in den Lobgesang einstimmen. Doch irgendwie scheint niemand was vom kollektiven Drogenmissbrauch mitzubekommen! Bern ist wie die Hure, die trotz Dauergeficke ihre Unschuld nie verliert! Kein Wunder, hat es den Holländern hier so gefallen, denn wenn ich es mir recht überlege, trifft dieser Vergleich mit der Hure nur noch besser auf Amsterdam zu! Auch so eine Stadt, die alle lieben. Nur ich nicht, ich scheine irgendwie immun zu sein.



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