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Jedem (zweiten) Ukrainer wäre das Augenwasser gekommen und er hätte sich zurückversetzt gefühlt in den Herbst 2004. Basel spielte ein bisschen Kiew an diesem brütend heissen Samstag und erlebte seine eigene Orange Revolution: 180'000 orange gekleidete Holländer (bzw. Möchtegern-Holländer wie ich) strömten von überall her, um mitzuerleben, wie das Team unter der Ägide des Weltfussballers des Jahres 1992 die Russen möglichst torreich wegfegen würde.

Doch zuerst galt es, eine solide Basis zu legen, damit später 2-Komma-Periode-7 Liter Bier in meinem Magen Platz finden würden. So erreichten WIR Holländer genau eine halbe Million Liter Bier, die an diesem Abend laut Statistik versoffen wurden. Etwas ab vom Schuss schlummerte friedlich das tibits vor sich hin und lud zum Essen. Doch der Schein trügte. Denn wenn selbst eine kultivierte Stätte wie das tibits Bier im Plastikbecher ausschenkt und mit Plasmamonitoren auffährt, ists in Kürze vorbei mit der Ruhe. Aber es wurde durchaus zum Erlebnis: Eine holländische Mischung aus Moby und Fred Clever versuchte den Kopfstand und ein Luftgitarren-Solo auf dem Holztisch und benützte als Eingang notorisch das Seitenfenster. Diese Übung erforderte allerdings einen Balanceakt über Stuhllehnen und tibits-Stammgast-Schultern. Dabei schwappten immer wieder ein paar Deziliter von Freds Bier über den Becherrand. Es bleibt unerklärlich und muss an seinem überschwänglichen Charme gelegen haben, dass die Stammgäste, die sich normalerweise über jedes nur halbwegs wahrnehmbare Rülpsen entrüsten würden, Fred nicht schon längst mit gezückter Annabelle zu Leibe rückten. Selbst die Deutschen (von denen einer aussah, als wären ihm zwei Platten seiner Plattenbausiedlung auf die Birne gekracht) liessen ihn gröhlend gewähren, als er mit loderndem Feuerzeug deren Fahne bedrohte. Aber Fred machte natürlich nur Spass und hangelte sich kurz darauf blitzschnell wie Supermoby durchs Fenster, um neues Bier zu holen.

Nachdem der Magen nun biertauglich getrimmt war, musste schnell eine Leinwand oder ein Monitor her, damit ich keines der hoffentlich zahlreichen Oranje-Tore verpassen würde. Die erste Idee hiess Münsterplatz, sonst eines meiner Lieblingsfleckchen in Basel. Als wir dort ankamen, war die ganze Fanzone bereits gerammelt voll und wir wurden Zeuge, wie ein Sanitäter bemüht war, einen leeren Rollstuhl über den Pflastersteinbelag zu bugsieren. Selbst wenn das ausharrende Opfer beim Eintreffen der Sanität noch leben sollte, den Transport im Rollstuhl zum Krankenwagen würde er unmöglich überleben! Münsterplatz war also gestrichen, es ging weiter durch das orange Gedränge über die Mittlere Brücke nach Kleinbasel, von dort weiter zum Wettsteinplatz, dann zur Warteck-Brauerei. Dort: Quartierfest, Kinder auf Holzlaufrädern, Couscous, indisches Buffet, ganz viel WOZ, ganz friedlich, aber definitiv kein Screen und kein holländischer Torregen! Also zurück zum Wettsteinplatz, der Anpfiff war bereits erfolgt, also hopp zum nächstbesten TV, ein türkischer Kiosk, na gut, passt! Herrlich solche Orte, ein feuriges Plädoyer dafür, meinen Wohnsitz doch mal zu verlegen. Denn türkische Lebensmittellädeli sind (nicht erst seit Monsieur Ibrahim) einfach der Hammer! Und meine 2-Komma-Periode-7 Liter Bier würden hier exakt 11-Komma-Periode-1 Franken kosten. Was will man mehr?

Es geht zwei Minuten, wir stehen in der vierten Spielminute, da tippt mich jemand von hinten an: «Wie-vel sto-oht?» fragt eine ältere Frau. Ich: «Emmer no 0:0!» Ihr Mann: «För d’Schwiiz? Hahaaa.. hust keuch!» Dann beginnt der Serbe neben mir, nervig mit dem Feuerzeug auf den Tisch zu poltern und was von «Holländer, göhnd hei!» zu fluchen. Irgendwie gelingt es mir, ihn zu beruhigen und in den nächsten 120 Minuten werden wir schon fast Freunde. Er spricht (fast) perfektes Schweizerdeutsch, dennoch unterbricht uns die Langzeit-Besoffene hinter mir immer wieder und erkundigt sich in bestem Politiker-Hochdeutsch, wann er denn wieder abzureisen gedenke. Dann fragt sie mich, wie der Kommentator des Spiels heisst, dann den Serben, wie lange die Heimreise nach Russland dauern werde, dann mich, wie das Spiel steht, dann ihr Mann: «För d’Schwiiz? Hahaa.. hust keuch!», dann den Serben, wie er denn heimreisen werde, dann tippt sie erneut mich an und unaufgefordert melde ich nach hinten: «Dani Kern! Ko-Kommentator: Jörg Stiel!» Doch dieses Mal muss sie aufs Klo. Ich lasse sie durch und für die nächsten drei Minuten konzentriere ich mich ausnahmsweise mal aufs Spiel: ... Ich bin überglücklich, als die Frau (jetzt plötzlich mit Holland-Hut auf dem Kopf) wieder zurückkommt, das Spiel taugt nichts zur Unterhaltung! Als sie sich an mir vorbeidrängt, um ihren angestammten Platz hinter mir wieder einzunehmen, bemerke ich ihren verdächtig nassen Hosenboden. Ein feuriges Plädoyer dafür, mehr Toitoi-Kabinen am Wettsteinplatz aufzustellen. Denn irgendwohin müssen die 500'000 Liter Bier ja! Ich frage mich, wohin das Bier in den letzten 20 Jahren, in denen die Frau und ihr Mann wohl schon hier sitzen, geflossen ist. Dann die Erlösung, das Spiel ist aus! Russland gewinnt, der Serbe neben mir jubelt. Natürlich fragt die Neo-Holländerin hinter mir, wie das Spiel ausgegangen sei, natürlich bringt ihr Mann den Schweizer Witz, natürlich wünscht sie dem Serben eine gute Heimreise nach Russland, natürlich protzt die Polizei nach dem Spiel ein bisschen mit ihren 20 Einsatzwagen, natürlich ist die SBB hoffnungslos überfordert mit dem Rücktransport von 180'000 Fans, natürlich qualmen pubertierende Jungs im Paarungstanz den vollgestopften Zugswagen voll und natürlich gewinnen die Deutschen vier Tage später ihren Halbfinal gegen die Türken. Schade, jetzt müssen wir Aarauer bis zum Maienzug warten, bis unsere Strassen mal wieder kurzzeitig an südländische Lebensfreude erinnern!



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