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Man erlebt ja selten, dass einem auf offener Strasse das Herz fast davonrast. Zumindest wenn diese Strasse von Aarau nach Suhr führt und nicht von Kabul nach Kunduz. Doch letzten Samstag wähnte ich mich eher in Morgarten als in der zivilisierten Gegenwart. Es ist ein seltsames Gefühl, wenn die Intelligenz eines Steinpilzes an einem vorbeistürmt. Verteilt auf etwa hundert Köpfe. Anfangs ist man noch amüsiert darob. Man möchte mit dem Finger auf diesen nordwestschweizerischen Husarensturm zeigen und die ganze Horde ganz doll auslachen! Wie sie mit ihren dunklen Sonnenbrillen, den rotblauen Leibchen (die das nächste Mal blauweiss oder gelbschwarz sind) und dem karierten Tuch bis über die Nase hochgezogen durch die Strasse rennen. Und ich frage mich, wen ich mehr auslachen würde: Diejenigen zuvorderst oder die Nachzügler ganz am Schluss der johlenden Alkoholfahne. Ich fühlte mich zurückversetzt in einen Winter in den späten 80er-Jahren, als ich mit aller Kraft versuchte, mich ins Mauerwerk der Hauswand zu pressen, während die Gruppe um den wesentlich älteren Nachbarn der Gruppe um meinen ebenfalls älteren Bruder hinterher rannte. In den Händen sorgfältig vereiste Schneebälle. Es gab ein ziemliches Geschrei, doch mich liessen sie unversehrt. Am letzten Samstag blieb ich abermals unversehrt, da ich Zuflucht auf einem angrenzenden Grundstück fand. Der Sturm zog vorbei (eine moderne Heuschreckenplage?) und es dauerte eine Weile, bis ich realisierte, weshalb da einer am Boden liegen blieb. Aus der Nase rann es rot und sein Auge schimmerte blau. Lustig, dachte ich, der passt sich farblich dem Gegner an. Natürlich fand er das selber weniger lustig, insofern er überhaupt noch in der Lage war, irgendwas irgendwie zu finden. Denn er wirkte recht benommen. Aber das alles hat durchaus seine Richtigkeit. Wenn wir schon eine Armee haben, die wir nicht wirklich brauchen, so können wir unsern Killer-Trieb immerhin noch im und ums Fussballstadion herum ausleben! Für was sonst dröhnten wir uns denn früher mit Rambo, Karate Tiger und Delta Force zu? Und der Chuck Norris von heute räumt nicht mehr in vietnamesischen Foltergefängnissen auf, sondern prügelt sich durch Extrazüge für Fussballfans.

Widerwillig erinnere ich mich an meine eigene Hooligan-Vergangenheit. Sie war rauh, hart und genauso blutig. (Mein Freund, mit dem ich früher an die Spiele ging, litt hie und da unter Nasenbluten.) Und ihren Höhepunkt erlebte sie in Baden im Stadion Esp. Es war beim Cup-Derby gegen Aarau. Der Linienrichter war natürliche eine Katastrophe und die Kinder-Ausgabe von mir stand ganz dicht an der Linie (wobei im Esp eigentlich jeder ganz dicht an der Linie steht). So machte ich dem Herrn in Schwarz an der Seitenlinie einige Male in sehr direkter Sprache klar, was ich von ihm hielt. Leider schenkte er mir keinerlei Beachtung. Die andern Match-Besucher dagegen schon. Und das war geil! Das verschaffte mir enorme Befriedigung. Doch dann kam ich in den Stimmbruch und mir wuchs das erste Schamhaar und plötzlich erkannte ich, dass Schieds- und Linienrichter durchaus auch Anspruch auf eine artgerechte Haltung haben. Statt «Scheiss Basel, Scheiss Xamax, Scheiss YB oder Scheiss irgendwas!» zu gröhlen, begann ich, mich aufs Spiel zu konzentrieren. Beim zweiten Schamhaar war ich zivilisiert und verstand allmählich sogar die Offside-Regel. Ich gebe zu, es ist bisweilen schwierig, trotz Bier, Bratwurst und Testosteron objektiv zu bleiben. Und doch gehöre ich seit dem dritten Schamhaar nicht mehr zu denen, welche den Schiri selbst dann in die 5. Liga zu verbannen drohen, wenn der eigene Spieler in japanischem Anime-Style dem Gegner in die Unterschenkel grätscht und gelb dafür sieht. Das hat alles seine Richtigkeit!

Aber Gigi Oeri und wir alle sind stolz auf diese «richtigen» Fussballfans. Diese wirklichen Kerle mit den Sonnenbrillen und dem einen Dutzend Hirnzellen. Und stimmt schon, wer möchte denn Fussballspiele sehen, in denen alle Zuschauer konzentriert (aber schweigend) den Ball verfolgen, wo man dem Gegner anerkennend auf die Schulter klopft, wenn die eigene Mannschaft grad 0:4 auf den Sack bekommen hat, wo man sich nicht so richtig über ein Offside-Goal freuen mag, wo man sich grammatikalisch und politisch korrekt über den Spielverlauf äussert und wo man sogar den Spielleitern eine minimale Intelligenz zugesteht? Man würde sich wohl eher im Studiengang «Soziokulturelle Animation» wähnen als auf dem einzigen Schlachtfeld, das uns noch geblieben ist. Ja, mit zwölf Hirnzellen lebt es sich schwer in unserer pazifistischen Wohlfühlgesellschaft. Strecken wir daher alle unsere Nasenbeine entgegen, wenn das nächste Mal ein pubertierender, alkoholisierter oder sonst in einer Form minderbemittelter Mob auf uns zugerannt kommt. Beim Knacken und Krachen unserer Knochen dürfen wir uns als Kulturförderer verstehen. Denn wo Blut fliesst, dort fliessen auch Emotionen! Und bis in 36 Tagen soll die blanke Euphorie entfacht sein!



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